Kreiser, 2. Studienreise

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auf Seiten 40-44:

Über die Mailänder Musikzustände heißt es sodann an späterer Stelle:
„Überhaupt ist die Musik in Mailand (und von der Capitale aufs ganze Königreich zu schließen) höchst bedauernswürdig, und ich habe aus den Besuche der Kirchen, Opern und Gesellschaften aller Art gesehen, wie tief das berühmte ltalien gefallen ist. – Kirchenmusik findet man sehr wenig, und ist man einmal so glücklich, so bekörnmt man höchstens etwas alte, gute Musik, aber mit Neuerem geflickt, entstellt und profaniert.“ Die neueste Kirchenmusik aber bezeichnet Reissiger als „ein Gemisch moderner Opern-‚ Militär und Tanzmusik.“ „Die Organisten hören in der Oper, sobald eine neue Oper oder Ballett gegeben wird, so außerordentlich aufmerksam zu, daß man gewiß das am meisten applaudierte Stück nächsten Morgen schon in der Kirche hört. O Warum gibt es darüber keine Inspektion?
Die Oper (das berühmte Teatro della Scala) ist unter der Mittelmäßigkeit, und ist erst so erstaunlich gefallen, seit es nicht mehr unter dem Gouvernement steht. An ein gutes Ensemble, an Fleiß im Einstudieren ist nicht mehr zu denken. Die Sängerinnen, die wirklich einen Ruf haben, wie Madame Feron, M. Garcia und M. Favelli, sind, mit Ausnahme der ersten, die jetzt, weil sie ihre Niederkunft erwartet und also nicht viel singen darf, so liederlich und nehmen sich so wenig in acht, daß öfters in diesem großen berühmten Theater gar keine Oper sein kann und man sich mit einer niedrigen Farce und Ballett begnügen muß, und das Publikum amüsiert sich bei diesem tollen Leben der Sängerinnen, denn es freut sich, die armen Sängerinnen auspfeifen zu können.“
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Über den Gesang schreibt Reissiger lobend: „Auf der Lehre des Gesanges allein scheint noch der Segen der entschlafenen klassischen Meister zu ruhen, die in einem Zeitraum von hundert Jahren so zahlreich in Italien lebten und wirkten und uns Deutschen zum achtungswürdigen Vorbild geworden sind. Mit der Komposition muß es hier zu Ende gehen, wenigstens wird kein Deutscher und hoffentlich auch kein Franzose in kurzer Zeit sich noch an diesem Klingklang erbauen; wir, die wir noch Kraft besitzen, um uns an dem wahren Gediegenen und Großen, was unsere unbestochenen, kräftigen Vorfahren geschaffen haben, zu erheben und zu stärken. Die Schätze des Altertums, die herrlichen Arbeiten des Scarlatti, L. Vinci, Pergolesi, Leo, Porpora.’ Durante, Jomelli, Piccini, Sacchini modern in den Bibliotheken und liegen unbenutzt. Gebt sie uns Deutschen, ihr geist-
und körperschwachen italienischen Süßlinge! Wir wollen sie ehren und ihnen die Unsterblichkeit sichern. Italien ist nicht mehr!“
Man beachte, daß das in einer Zeit geschrieben ist, in welcher noch keine musikhistorische Wissenschaft im heutigen Sinne dazu auffordern konnte.
In Reissigers Enttäuschung über die italienischen Musikverhältnisse fallen aber auch Lichtstrahlen, die ihm Mailand sogar unvergeßlich gemacht haben. Abgesehen von den Karnevalsfreuden, bei denen er „außerordentlich lustig“ war‚ hat er noch Höheres erlebt. Wir lesen: „In einigen musikalischen Häusern, namentlich bei der Generalin Ertmann, Beethovens bester Schülerin, habe ich Genüsse gehabt, die ich nicht wieder in Italien haben werde. Die Generalin Ertmann, eine der ersten jetzt lebenden Klavierspielerinnen, hatte mich sehr an Mailand gefesselt. Diese liebenswürdige Frau und ihr Gemahl, welche mich sehr herzlich aufgenommen haben, leben beide nur für gute Musik. Acht Tage lang hatte ich von ein bis zwei Uhr den hohen Genuß, sie alle Beethovcnschen Kompositionen spielen zu hören. Viele von diesen Beethovenschen Sonaten waren mir unbekannt, und Sie können denken, wie interessant es mir war, sie mit neuem Geist vortragen zu hören und mit einer musterhaften Vollendung, so daß ich gestehen muß, daß ich diese Kompositionen für Klavier erst jetzt recht verstehen gelernt habe. Ich mußte ihr auch von meinenKlaviersachen vorspielen, von denen ihr besonders eine Fantasie (die ich Hofmeister verkaufte) und mein letztes Trio außerordentlich gefielen. Meinen Liedern schenkte sie ihren ganzen Beifall, vielleicht, weil sie lange keine einfachen deutschen Lieder gehört hatte. Die Nachmittage spielten wir vierhändig Sonaten usw. und lebten uns in sämtliche Beethovensche Symphonien ein. Wir trachteten danach, sie ganz in Beethovens Geist vorzutragen. Gern würde ich in Mailand länger verweilt haben, denn es gab dort noch viel für mich, aber es ist ein teures Nest für einen armen Teufel …..
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Die Sorge um seine spätere Existenz spricht doch immer wieder aus seinen Berichten. Um so befreiender mag der Inhalt zweier Briefe von Stobiwasser und Weiße gewirkt haben, den wir aus der Antwort Reissigers an Weiße vom 10. Mai aus Bologna erraten können : „Im Abreisen begriffen, empfing ich in Mailand Ihren lieben Brief mit der Kopie des Stobwasserschen. Die beiden Briefe hoben mich wieder empor. Denn sie sagten mir, daß noch in Deutschland Freunde leben, die mir wohlwollen und die mein Glück da befördern wollen, wo ich es am liebsten erwarte, in der Mitte des lieben deutschen Vaterlandes, – Ich muß mich schämen, kleinmütig genug gewesen zu sein, ungerecht gegen mein Vaterland gedacht zu haben auf Kosten jener großen, eitlen Stadt, die ich kennen lernte und die mir herzlich gleich darbot, was meine kühnsten Wünsche in Deutschland nie erwartet hätten. – Beifall, Ehre, Brot, Erwerb! – Was mich am meisten rührt ist, daß der Minister sogar meinen armen Vater unterstützen will, und die Art, wie er die Lage meines guten Vaters erfahren hat, wirft mich zum Dankgebet gegen Gott. – Gottes Hand, die mich so wunderbar geleitet und geführt hat, wird mich ferner leiten und führen. …

Anmerkung S. 42:
R. hätte sich nicht so zu sorgen brauchen, denn die Schreiben des Ministers sind sehr hoffnungsvoll für später. Einmal heißt es: “Übrigens würde Ihnene freistehen, Ihren Aufenthalt in Italien nach Befinden zu verlängern, und ich wünsche nur zu seiner Zeit Nachricht von Ihnen zu erhalten, wenn Sie wieder allhie einzutreffen gedenken, damit wegen einer Ihren Kenntnissen und Talenten angemessenen Anstellung die nötigen Maßregeln getroffen werden können. Von der Fortsetzung Ihrer Kunstreise erwarte ich den besten Erfolg und wiederhole Ihnen die Versicherung meiner aufrichtigsten Hochachtung. Altenstein”

Heute hatte ich das Glück, den alten, berühmten professore di musica, Abbate Mattei‚ Schüler von Martini, kennen zu lernen und die Bibliotheca musicale oder das berühmte Archiv im Liceo musicale filharmonico zu sehen, den Sitz der Academia filharmonica. Mattei ist ein schwacher Greis. Da er im Begriff war-auszugehen, als ich zu ihm kam, so bat er mich, ihm eine andere Zeit zu schenken. Ich freue mich sehr, ihn recht kennen zu lernen, denn Mattei in Bologna, Asioli in Corregio und Zingarelli in Neapel sind die einzigen. gründlichen, würdigen Musiker, welche Italien noch besitzt.
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In der Bibliotheca musicale führte mich der alte, brave Archivar Barbieri freundlich umher und zeigte mir alle Seltenheiten, die hier in großer. Menge vorhanden sind, und die man zum Teil dem rastlosen Sammeln und der großen Ordnungsliebe des Barbieri zu danken hat. ———- Hierher wird mich täglich mein Genius leiten, und hier will ich studieren, was mir nur wird meine Zeit erlauben, denn der freundliche Archivar schließt mir gern und willig jeden Schrank auf. Eines Vormittags schlug ich mir Martini Saggio fondamentale del Contrapuncto auf, und ich fand dort einen Schatz von Beispielen von Fugen aller Art, von den besten, ältesten Meistern. Es ist zwar sehr breit und weitschweifig, aber doch ewig nützlich und kostbar.

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13. 2. 2014 von Christian