Kreiser, 2. Studienreise

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auf Seiten 45-49:

In der zweiten Hälfte des März 1825 siedelte er endlich nach der ewigen Stadt über. Am 15. April 1825 schreibt er aus Rom: „Ich denke einen ganzen Monat noch hier zu bleiben, da es von Nutzen ist, indem ich mir sowohl alte, seltene Werke abschreibe und daraus lerne, als auch viel Gutes höre, was ich weiterzu erläutern mir aufspare. Den Abend verbringe ich in fremden Zirkeln, wie beim Grafen Ingelheim, dem ich etwas vorphantasiere, beim Oberst Löpel, Adjutant des Prinzen Heinrichs, bei der Vera, bei Catel usw. und lebe sehr angenehm. Rom ist für Künstler höchst gesellig. Von hiesigen Künstlern zähle ich zu meinem Umgang die Maler Catel, Hänsel, Grahl, Thorwaldsen und Wolff. Lauter herrliche Menschen! Thorwaldsen wohnt in demselben Hause, und ich benutze sein ziemlich gutes Fortepiano; was mir um so schätzenswerter ist, da es hier unter den zu mietenden Fortepianos schreckliche Schlagtastensaiten-Tonkasten gibt. Der hiesige päpstliche Sängerdirektor Baini ist ein Mann von den seltensten Kenntnissen, besonders in der: alten Musik. Er hat die Palestrinaschen Kompositionen studiert und dieses System ganz auf die alten, griechischen Tonarten zurückgeführt und ihre Regeln gebildet an den Fingern. Der preußische Legationsrat Bunsen hat mich bei ihm eingeführt, und ich hoffe ihn zu benutzen und mir einigen Aufschluß zu holen. Noch habe ich keine Zeit dazu gehabt, weil ich erst Rom kennen lernen muß. Unterdessen habe ich Studienarbeiten gefertigt und zwei vierstimmige lateinische Psalmen und einen achtstimmigen zweichörigen Psalm ‘komponiert, die ich in Berlin mit Ehren hören lassen kann, wenn sich Gelegenheit dazu bietet oder dem Könige schicken kann. Ich suche wie ein Spiirhund nach alter, seltener Musik herum und mache Bekanntschaft mit den alten musikalischen Abbés, welche meistens sammeln. Drei achtstimmige Sachen habe ich schon abgeschrieben und durchstudiert. ——— Dieser Baini ist Chorsänger bei den Leibsängern des Papa Corento, sowie Kastratendirektor und ein wahres, altes, gelehrtes Buch und Fundgrube aller alten Musika und ihrer Geschichte. Die neue Musik liebt er unter keiner Gestalt. Ich zeigte ihm moderne Sachen von mir, aber da stand er gewaltig aus – bei jedem verminderten Intervall oder bei den durchgehenden Noten – note di gusto – ‚ bei jeder eleganten Verzierung verzerrte er das alte Gesicht. Kurz, ich hatte mich den ersten Tag schlecht bei ihm empfohlen. Den zweiten Tag aber zeigte ich ihm einen im Kontrapunkt der Oktave durchgearbeiteten Kanon in der Quinte und ich merkte, daß etwas Respekt vor deutscher Gründlichkeit bei ihm sich einfand, denn seit diesem Augenblicke ist der ganze Mann für mich ein anderer geworden. Ich gehe wöchentlich zwei Abende zu ihm und fühle’ mich jederzeit gestärkt und erquickt. Er ist der rechte Mann, den man frequentieren muß, wenn man über die griechischen Tonarten, über Canto, Fermo, über die alten Choräle und die gauzeKapellmusik recht klar werden will. Das ist mein Zweck, denn alles, was ich bis jetzt aus dem Wirrwarr vorhandener Schriften herausstudierte, war teils unzulänglich, teils sehr dunkel, und da will’s denn gegenüber einem Manne wie Baini, der so deutlich erklärt, was Mattei in Bologna in ein unglaubliches Dunkel hüllte, daß man den Mann bewundern muß (??? K. K.}. Baini läßt mich jetzt alte Choräle nach der alten Tonart harmonisieren, lehrt sie mich nach den alten Prinzipien übersetzen und gibt mir mit einem Wort über jeden Zweifel ebensoviel Aufschluß, als andere mich mit vielen Reden verdutzt machten und mir die klare Sache recht geheimnisvoll darzustellen suchten. Weswegen sollte ich mich‚nichts auch in dieser Musikgattung sattelfest zu machen suchen‚ da ich in der modernen Musik und in unserem galanten Kirchenstil (so nennt Baini unsere geistlichen Musiken) viel Gutes zu leisten mich imstande fühle. Ich muß ein gelahrter Musiker werden, denn so scheint’s der Minister auch zu wünschen, da er in seinem Briefe an den preußischen Geschäftsträger Bunsen sagt, daß ich bei meiner Rückkehr einen, ausgedehnten Wirkungskreis, die höhere musikalische Bildung in Preußen betreffend, erhalten würde! Am Ende werde ich noch dereinst ein gelahrter Professor und Verfasser theoretischer Werke, da ich bis jetzt nur Bassist, passabler langfingriger Klavierspicler, schwacher Bratschiste und Komponist für den ggalanten Stil und das Gefühl gewesen bin.“
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Mit dem preußischen Geschäftsträger Bunsen bin ich genau bekannt worden. Dieser Herr hat die alte Musik zu seinem Hauptzeitvertreib gemacht und vorzüglich die Kirchenmusik. Er hat alle alten Lieder hervorgesucht und einen Vers wie den anderen prosodisch zugestutzt, damit einer wie der andere nach dem Choralschema gesungen werden kann, ‚so daß die langen Silben nur auf einen guten Zeitteil fallen. Alles das ist gut und löblich, aber nun hat er die Idee‚daß alle Choräle rhythmisch bearbeitet werden können, und hat Baini bewogen, ihm solche Verse zu bearbeiten. Dieser aber, der die deutsche Sprache nicht kennt und ebensowenig unseren Chorgesang, kann gar nicht wissen, daß dieses in den meisten Chorä1en‚.die wir zu singen gewohnt sind, gar nicht angeht. Jetzt hat er seine Augen auf mich geworfen und auch mir Versuche aufgetragen. Nach seinerldee könnten die Psalmen auch sehr gut in unseren Kirchen eingeführt werden, etwa so, daß ein Vers vom Priester und der andere vom Volke gesungen würde. Nun ist es aber freilich nicht schwer, solche Schemas zu machen, aber wie schwer würde die Einführung dieser Gesangsart sein – welche Änderungen müßten in den Schulen deshalb stattfinden, um die Jugend so weit zu bringen, die Psalmen so richtig zu deklamieren, daß ein ganzes Chor einen solchen Psalmvers richtig und gleichmäßig auf einen vorgeschriebenen Ton absingt und einen alten Schluß formiert usw. – wie verschieden sind die Versschlüsse. Wie lange müssen die hiesigen Kapellsänger eingesetzt werden, ehe sie fest darin werden, geschweige unsere Stadt- und Dorfjugend.“
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Am .14. Mai 1825 schreibt Reissiger aus Rom: „Daß mir mein hiesiger Aufenthalt von großem Nutzen als wissenschaftlicher Musiker ist, werden Sie aus dem April an Herrn Weiß abgeschickten Briefe ersehen haben. Jetzt bin ich nun entschlossen, da mir das hiesige Klima sehr gefährlich, Den 20. Mai nach Neapel zu gehen und mich bei meiner Ende Juni erfolgten Rückkehr nur noch wenige Zeit hier zu verweilen, ….
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Ende Oktober 1825 verließ Reissiger Rom und kehrte über Loreto, Bologna, Padua, Venedig, Triest, Wien, Prag nach einundeinhalbjähriger Abwesenheit nach Berlin zurück. Eine inhaltvolle Zeit hatte der Künstler hinter sich. Die Reise hatte der unermüdlich Strebende verstanden, sich tatsächlich zur Krönung seines Bildungsganges werden zu lassen. So hatte auch er, wie so unendlich viele deutsche Komponisten, im Auslande einen wertvollen Fonds an Anregungen für das eigene Schaffen gewonnen. Wenn auch die ausländische Musik zu dieser Zeit in jedem Lande fast nur in einem Zweig tatsächlich vorbildlich war – in Frankreich war es vor allem die komische Oper, welche vor den anderen Gattungen im Augenblick den Vorrang hatte, in Italien. dem Lande der Melodie, die virtuose Violin- und Gesangsmusik, während z. B. in der Kirchen- Kammer- Orchestermusik Tiefstand herrschte, so war dies für den vergleichenden Deutschen gerade um so lehrreicher, als durch Kontraste das Gute leichter herauszuinden war. Dazu kommt, daß er die Sachen von den nationalen Kräften, für die sie geschrieben waren, dargeboten hörte, dabei auch Werke, die über die Grenze ihres Entstehungslandes noch nicht hinausgedrungen waren, kennen lernte. —— Die Reise selbst aber stellt, da sie im Auftrage der Regierung geschah, mit dem Zwecke, für die Errichtung eigener Musikbildungsanstalten Erfahrung fremder Institute zu sammeln, den ersten Schritt zur Verstaatlichung von Konservatorien in Deutschland dar.

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13. 2. 2014 von Christian