Wir kommen nunmehr zur Besprechung des Konzertlebens in Dresden zur Zeit Reissigers, wobei auch die außerhöfische Musikpflege, welche bisher nirgends behandelt wurde, bedacht werden soll. Das deutsche Konzertwesen macht am Beginn des 19. Jahrhunderts eine große Wandlung durch, deren Wesenskern man darin erblicken kann, daß man von einer intimen Musikpflege (höfischen oder gesellschaftlichen) allmählich zu einem auf breiterer Grundlage stehenden öffentlichen Konzertleben übergeht. Durch Gründung einer Unzahl von Musikvereinen (Singakademien, Männergesangvereinen, Instrumentalvereinigungen) wurden Verständnis und Begeisterung für die klassische Literatur in größere Kreise getragen. Den größten Erfolg hatten diese Bestrebungen in den schon erwähnten Musikfesten zu verzeichnen, auf denen sich viele kleine Vereine zu größeren Komplexen und Wirkungen vereinigten.
Reissiger war nun schon während seiner Leipziger Studienzeit in ein reiches, in dieser Weise geartetes Musikleben gekommen. wo er ja sogar zeitweilig die Gewandhauskonzerte dirigierte. Namentlich war von Leipzig eine systematische Beethovenpflege ausgegangen. Wir brauchen uns daher nicht zu wundern, wenn Reissiger in seinem Dresdner Wirkungskreise nun auch dem Konzertleben sein Interesse zuwendete. Es standen ihm in seinem Hoforchester und den Künstlern der Oper ja auch die trefflichsten Hilfstruppen zu Gebote. Zunächst gab es allerdings noch kein sogenanntes „stehendes Konzert” (eine Konzertreihe mit Abonnenten). Weber hatte einst einen vergeblichen Versuch gemacht, diese Einrichtung einzuführen. Wenn wir aber in den Anzeigen und Berichten nachschlagen, so finden wir, daß im Winter die königliche Kapelle durchschnittlich alle vierzehn Tage ein öffentliches Konzert („musikalische Akademie” genannt) gab, also die Zahl fast die gleiche war wie heute. Den Anlaß zum Konzert bot gewöhnlich einer der berühmten Dresdner oder auswärtigen Virtuosen, welche alle damals schon, genau wie heute, Dresden besuchten: Paganini, Hummel, Moscheles, Kalkbrenner, F. Ries; Klara Wieck und wie sie alle heißem. Von den Virtuosen des Dresdner Orchesters durfte jeder jährlich ein Benefizkonzert veranstalten. Deren Vortragsnurnmern hatte die kgl. Kapelle erstens zu begleiten, dann aber auch durch eigene Nummern zu ergänzen. Außerdem war immer noch ein Duo oder Trio von Opernsängern beteiligt. Das Orchester trug außer der Ouvertüre, wobei gleich hier bemerkt sei, daß Reissiger gern die Weberschen bevorzugte, noch eine Sinfonie oder einen Sinfoniesatz vor. Die Konzerte waren infolge der Vielseitigkeit der Programme eigentlich keine reinen Sinfoniekonzerte, sondern wir würden sie heute vielleicht „Philharmonische Konzerte“ nennen. Interessant ist, daß man damals noch häufig Bläservirtuosen begegnete. Klarinetten-, Flöten- und sogar Fagottkonzerte sind nichts Seltenes. Klavier- und Violinvirtuosen tragen nur Konzertsachen vor; Sonaten und andere Kammerwerke sind jetzt noch ausschließlich in den Aristokratensalons zu hören, welche ja nebenher immer noch Stätten der Kunst geblieben waren. In den zwanziger Jahren finden wir in Dresden selbst die Konzertmusik im Banne der Italiener, bis nach und nach deutsche Programme erscheinen. Hier hat vor allem Reissiger mit seiner Beethovenpflege vorbildlich gewirkt. ——- Die Beethovenverehrung fand schönsten Ausdruck in einem von Reissiger geleiteten Konzert zum Besten eines Beethovendenkmals‘ in Bonn, worüber man in der .; M. Z. (1839, S. 777) liest: „Indes trug auch die Kapelle sehr viel dazu bei, daß der kühne Geist Beethovens in dem Maße verstanden wurde, wie er verstanden sein will; nur solches kräftiges Ineinandergreifen, solche exakte Ausführungen vermögen es, den nach allen erdenklichen Richtungen ausgesponnenen Gedanken so vollständig und präzis wiederzugeben, wie es der Geist der Komposition durchaus fordert. Diese eigentümliche geistige Belebung des Orchesters hängt aber hauptsächlich von dem Dirigenten ab, der gewissermaßen die Seele desselben zu nennen ist, und hier müssen wir vor allem dem sehr verdienstvollen Kapellmeister Reissiger unseren aufrichtigen Dank zollen; er zeigte uns jene beiden Tongemälde, die Sinfonia eroica und die Ouvertüre in C, mit feinen Schattierungen in ihrer Großartigkeit so klar und deutlich, daß auch nicht das Mindeste verloren ging.“
Die Virtuosen, welche nach Dresden kamen, gaben gewöhnlich zwei oder drei Konzerte gleich hintereinander, und zwar zuerst ein Privatkonzert vor dem Hofe in Dresden oder Pillnitz, ein zweites im Hoftheater während der Zwischenakte – eine Einrichtung, die uns heute verloren gegangen ist – und endlich ein drittes in der erwähnten Art mit dem Hoforchester in einem Konzertsaale. Es kam auch vor, daß ein Virtuos in einer Familie ein Privatkonzert gab.
Die ersten Konzerte hatte Reissiger anzuordnen.
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seiner Vorliebe für die Italiener auch Bach und Zelenka immer auf dem Flügel liegen gehabt haben. Reissiger hat oft mit der königlichen Familie musiziert.
Außer den Konzerten, in welchen die kgl. Kapelle zur Mitwirkung herangezogen wurde, veranstalten sie selbständig jährlich mehrere Wohltätigkeitskonzerte, die sogenannten „Armenkonzerte“ und das seit 1826 bestehende Palmsonntagskonzert. Die Armenkonzerte gab es ja auch anderswo, z. B. in Leipzig, wo das Gewandhausorchester jährlich mehrere veranstaltete. Bei Gelegenheit dieser Konzerte kamen immer größere Werke zur Aufführung so daß man sie auch als Musikfeste bezeichnete. Die Dreyßigsche Singakademie, die Singakademie des Frauenkirchenorganisten Ehlich und die des Kantors Mühle, der Kreuzchor Julius Ottos, der Seminarchor, ferner das Stadtmusikkorps Zillmann ergänzten das königliche Orchester und den Opernchor, so daß man wirklich eine stattliche Zahl von Mitwirkenden zur Verfügung hatte. Die Liste einer Reihe von Palmsonntagskonzerten zur Zeit Reissigers, welche unten 2) nach dem Verzeichnis, welches v. Brescius in seiner Festschrift zum 350 jährigen Jubiläum der Kgl. Kapelle (Dresden 1898) zusammengestellt wurde, gibt ein erfreuliches Bild musialischer Kultur. Das Armenkonzert im Sommer fand immer im Palais des Kgl. großen Gartens statt, während die Winterkonzerte im Saale des alten Opernhauses abgehalten wurden. Eins der Winterkonzerte fand immer zur Fastnachtszeit statt, woraus dann 1850 das heute noch bestehende Aschermittwochskonzert wurde.
In einem dieser Armenkorizerte (27. August 1838) erklang im Palais des Großen Gartens zum ersten Male für Dresden Beethovens Neunte unter Reissigers Leitung.
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Interessant ist, daß kaum ein halbes Jahr später ein anderes Werk des letzten Beethoven erklang, was vielleicht durch die Aufführung der Neunten mit veranlaßt war. 1839 führte die Dreyßigsche Singakademie zum ersten Male im Bereiche des heutigen Deutschen Reiches die „Missa solemnis auf. Dies ist ein Beweis, wie hochstehend das außerhöfische Musikleben in Dresden war. Es lebten aber auch Persönlichkeiten daselbst, deren Namen auch heute noch guten Klang haben, Julius Otto, der Hoforganist Dr. Johann Schneider, den Mendelssohn für den größten lebenden Organisten erklärte, ein Bruder des „Weltgerichts“-Schneider, sein Vorgänger der tüchtige Agthe, einige Jahre später Robert Schumann mit Gattin, Wagner, F. Hiller u. a.
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Hatten in den zwanziger Jahren schon einmal öffentliche Kammermusiken existiert (von einem Quartett der Hofkapelle: Peschkc, Schmiedel usw.), so erwachten diese nach mehrjähriger Pause, während welcher die Kammermusik nur in den Salons erklang, in den dreißiger Jahren zu neuer Blüte (Kgl. Konzertmeister Schubert, Rolla, Morgenroth, Dotzauer u. a. Mitglieder der Kgl. Kapelle). Ein Ereignis für Dresdens gesamtes Musikleben war Lipinskis Anstellung. Seine Quartettabende waren weithin berühmt. Auch vereinigte er sich mit fremden Künstlern zu Kammermusikverstaltungen in Dresden, z. B. mit Liszt. In den vierziger Jahren kamen die Mittags- und Abendkonzerte des Schumannschen Ehepaares hinzu, ferner die Hillerschen Veranstaltungen. Nach Schumanns Übersiedlung nach Düsseldorf 1850 wurden die Konzerte von Marie Wieck weitergeführt. Jul. Schnorr v. Carolsfeld, der Direktor der Gemäldegalerie, berichtet weiter von Elternabenden im Blochmannschen Erziehungsinstitut, in denen die königlichen Kammermusiker Quartette boten. Ebenso rief 1854 der Bildhauer Hähnel Kammermusiken mit Mitgliedern der Kgl. Kapelle ins Leben. ——- Erwähnt seien auch die beiden Haupt-Männergesangvereine Liedertafel
(gegr. 1830) und Orpheus (gegr, 1834), welche noch heute bestehen. Daß Reissiger, einer der ersten Männerchor-Komponisten der Zeit, diesen Vereinen seine ganz besondere Teilnahme zuwendete, ist sellbstverstänlich. Reissiger war selbst der erste Dirigent der Liedertafel.
Bekannt sind ja auch die ersten großen deutschen Männergesangsfeste in Dresden 1842 und 1843. Der Orpheus-Müller, Leiter des Orpheus, war Reissigers besonderer Freund.
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Wir müssen nun endlich auch der von der Kgl. Kapelle unabhängigen Orchestermusik in Dresden gedenken. Dieser wird in den zeitgenössischen Berichten ein ganz besonderes Lob gesungen. ——- Immer fielen auswärtigen Besuchern die stark besetzten Orchester an Vergnügungsorten besonders auf. 1828 bereits macht man in Berlin den Vorschlag, auch solche Konzerte „mit ganzem Orchester“, wie sie in Dresden im Linckeschen Bade, im Großen Garten und auf der Brühlschen Terrasse so vorzüglich zu finden sind, einzuführen. Eigentümlich war dabei, daß man ganze Sinfonien in den Gartenkonzerten aufführte, weshalb allerdings die Sinfonie, wie Moritz Hauptmann schreibt, dem eigentlichen Konzertsaale länger vorenthalten blieb. „Auch gelangte sie dort (im Garten) zu so tüchtiger Aufführung, als man sie sonst unter freiem Himmel wohl selten hören wird.“ Daß man dafür im Saale wenig Sinfonien hörte, ist aber wohl ein zu schroffes Urteil, denn schon in den zwanziger Jahren spielen die Militärkapellen und das Stadtmusikkorps (Zillmann) jede Woche wenigstens eine Sinfonie (älterte von Haydn. Mozart, Beethoven, neuere von Weber, Romherg, Kalliwoda, Spohr) in Creutzens Kaffeehaus am Altmarkt oder in der großen Wirtschaft im Großen Garten. Andere Lokale waren Findlaters Weinberg (heutiges Albrechtsschloß), Italienisches Dörfchen und die Brauerei-Restaurationen, eine ziemlich große Anzahl, so daß z. B. Das Stadtmusikkorps Sommer und Winter fast täglich an einem anderen Orte beschäftigt war. Stadtmusikcorps, also „Städtische Kapelle“, dieser Begriff will dem heutigen Dresdner zunächst sehr befremdlich erscheinen, denn er kennt kein Stadtorchester mehr. Und doch hat es bis Ende 1875 tatsächlich neben dem Kgl. Orchester ein solches gegeben.
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Die erste Hälfte des l9. Jahrhunderts bringt fast in allen größeren Städten die Einrichtung von Abonnementkonzerten. Dresden besaß in seiner Hofkapelle eins der ersten Orchester der Welt, und doch bekam es von dieser Seite her die Einrichtung stehender Konzerte mit einem festen Zuhörerkreis erst nach der Jahrhundertmitte (1858). Es war dies eine der letzten verdienstvollen Einrichtungen unter Reissiger.