Kreiser, Reissiger und Wagner

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Es muß auffallen, daß Reissiger als Mensch und Künstler in der ziemlich umfangreichen Literatur, welche wir aus der ersten Hälfte des l9. Jahrhunderts über Dresden haben, immer als Vornehmer, edelgesinnter, gerechter, dabei liebenswürdiger, herzlicher, solider Charakter gezeichnet ist. Nur von der Wagnerschen Seite wird ihm ein Zug von Verstellung und Falscheit angedichtet. Wagner war ein Kämpfer und vermutete – sicher behaupten konnte er es selbst nie – immer in Reissiger einen Gegner seiner künstlerischen Anschauungen. Hierin täuschte sich Wagner. Wohl waren Wagener und Reissiger menschlich und künstlerisch stark verschiedene Charaktere. Wagner, der große Tragiker, Reissiger der heitere Lebenskünstler, der Humor als Weltanschauung besaß, bilden Gegensätze, die zu heftigen Zusammenstößen hätten führen können, wenn eben nicht immer die besonnene Lebenskunst des älteren Reissiger das elementare, spontane Verhalten des Stürmers und Drängers Wagner, welcher er ja in der Dresdner Zeit war, durch ihre abwartende Ruhe ausgeglichen hätte. Wer aber nicht zu Wagners damals natürlicherweise noch etwas grellfarbener Fahne mit Begeisterung schwor, der galt gleich als Feind. Daß es noch eine Mittelgattung von Menschen geben kann, die zunächst Ruhe bewahren, wenn es anderswo gärt, und dies sogar pflichtgemäßig tun müssen, selbst wenn sie Interesse für den Anderen haben, das verstehen kühne Neuerer nicht. Wagner selbst war noch nicht zu voller Klarheit über sein Wollen gelangt. Erst nach den vierziger Jahren, also nach Dresden, erschienen seine ästhetischen Schriften, in denen er sich und der Welt Rechenschaft gibt, aus denen erst richtige Deutlichkeit über die Stellungnahme zu seiner Kunst hervorbricht. Das sei auch bedacht, wenn man die Verdammungsurteile liest, die Wagner über die Dresdener Musikkritiker fällt. Sie standen einem noch unfertigen Prozeß gegenüber, den sie aber schon für beendet nehmen sollten, obwohl der Erreger selbst noch keinen festen Weg zum Ende gefunden hatte. Wenn man gelegentlich heute noch der falschen Anschauung, bei Wagners Kunswerk Text und Musik jedes für sich zu beurteilen, begegnet, während es gerade als Gesamterscheinung gewürdigt werden will, so braucht man sich bei der großen Neuheit für die damaligen Kritiker nicht zu wundern, wenn sie nicht gleich die richtige Einstellung trafen.

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20. 2. 2014 von Christian