Kreiser, Die letzten Jahre

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auf Seiten 92-94 :

Überblicken wir noch einmal das gesamte Leben Reissigers, so ergibt das Fazit eine Riesenlebensarbeit. Dem Komponisten ist im folgenden Kapitel noch ein gesonderter Abriß gewidmet. Als Dirigent aber können wir von ihn sagen, daß er nach dem Grundsatz: „Ältestes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefaßt das Neue“ durch meisterhafte Darstellung der klassischen Werke das überkommene Erbe bewahrt und gemehrt hat, denn erst durch Reissiger bekommen dieselben eine dauernde Heimstätte in Dresden, und ferner durch die tätige Förderung der neuen Erscheinungen seiner Kunst den Anschluß an die Jugend nicht versäumte‚ wenn auch manchmal später nicht die erhofften Früchte wuchsen. Er konnte beides verbinden nur infolge seiner umfassenden Fach- und Allgemeinbildung. Von einem damaligen Kapellmeister wurden noch bedeutende kompositorisch-technische Kenntnisse verlangt während heute das Naturgesetz der Arbeitsteilung, welche ja eigentlich Fortschritt bedeutet, doch dem Extrem der vollständigen Verkümmerung der rein theoretischen Kenntnisse Vorschub leistet. Reissiger war ein tüchtiger Praktiker und daher vorzüglicher Erzieher des Orchesters. „Unter ihm bemächtigte sich der Spielenden ein unbegrenztes Gefühl der Sicherheit und Ruhe.“ Als Dirigent beherrschte er alle Stilarten von der blühenden Melodik der Italiener (Rossini, Verdi), über die rhythmisch graziösen (Auber) und pathetisch erhabenen (Halévy) Franzosen bis zur tiefen deutschen Kunst (Bach, Beethoven).„Die Gabe klaren Verständnisses der Intentionen der verschiedensten Komponisten lassen ihn als einen der ersten Dirigenten erscheinen“ Die Gewissenhaftigkeit der Amtsführung bewies er immer auch bei der Beurteilung eingereichter Opern, deren Zahl im Jahre manchmal acht bis zehn betrug.
Genoß er auch als Musiker internationalen Ruf, tiefere Wurzeln hat doch seine örtliche Bedeutung für Dresden geschlagen. Unter seiner obersten Führung wandelte sich Dresden aus einer welschen in eine deutsche Musikstadt, und es ist daher nicht anmaßend, wenn man in der Entwicklung des Dresdner Musiklebens von einer Ära Reissiger spricht.
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Es ist dankbar, auch den Nebenmännern der Großen einmal eine Sonderbetrachtung zu widmen. Erstens stellt sich vielfach dabei heraus, daß diese doch nicht nur als Folie für den Glanz der Größeren anzusehen sind, sondern daß auch sie eigene Werte besitzen; andererseits fällt auf die Zeitumstände und Umgebung der Großen ein deutlicheres Licht, da wir in den Nebenmännern gerade die Bereiter des Bodens für die ersteren vor uns haben. Ihre Nichtberücksichtigung würde die Zeit einseitig widerspiegeln. Im Falle Reissiger hat sich sogar ergeben, daß das landläufige Urteil um einige Grade zu verändern ist.

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20. 2. 2014 von Christian