Kreiser, Der Komponist

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auf Seiten 97-99 :

Sehr glücklich war Reissiger als Komponist von Chorliedern, geistlichen und weltlichen. Das vierstimmige Chorlied, welches seit Caccinis Florentiner Monodie nie so recht mehr geblüht hatte, erlebte am Anfange des 19. Jahrhunderts einen großen Aufschwung durch die in den Befreiungskriegen wurzelnden Bestrebungen der Männergesangvereine. Da war nun Reissiger einer der geschätztesten Komponisten seiner Zeit. Er verband eine gediegene Setzweise mit frischer, melodischer Erfindung (ohne Chromatik) und manchmal sogar pikanten Harmoniewirkungen. Die vorbildliche Stimmführung, auf vollen Chorklang ausgehend, läßt den ehemaligen Schichtschüler Thomaschorsänger erkennen.
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Wie die weltlichen Chöre, so waren ebenso Reissigers geistliche Chöre sehr geschätzt. Seine natürliche Veranlagung war vorwiegend heiter; um so mehr müssen wir uns wundern, daß er auch der Kirche so viele achtbare Werke geschenkt hat. Die Kirchenmusik ist überhaupt das Gebiet, in welchem die Epigonen der Klassiker ihre besten Werke schufen (Schicht,B. Klein, F. Schneider, Neukomm, Eybler). Für Reissiger war die Kirchenmusik das Feld, in welches er von Jugend an hineingestellt worden war; in einem Kantorhause geboren, in einem Kirchenchor erzogen, konnte das natürlich seine Einwirkung auf ihn nicht verfehlen. War aber bereits den Klassikern, die Reissiger vorwiegend hörte, in der Kirchenmusik ein gewisser faustisch tiefsinniger Grundzug abhanden gekommen, so erhielt auch beim Epigonen das metaphysische Bedürfnis einen mehr naiv-frommen Ausdruck. Seine Weltanschauung war abgeschlossen, wozu sein heiteres, genußfreudiges Temperament beitrug (Humor als Weltanschauung). Wir verweisen hier auch auf das früher über Reissigers Stellung zur Religion Gesagte.
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Auch war ein ebener Satz mit wenig Melodiesprüngen, Läufen und langsamen Harnioniewechseln ein Erfordernis, welches die Akustik der Dresdner Katholischen Hofkirche, für für welche die meisten Kirchenwerke Reissigers geschrieben sind, stellte. Die bewegten Violinpassagen und Modulationen eines Mozart ergeben z. B. in diesen Räumen eine kleine Klangverwirrung.
Andere, nicht direkt für diese Kirche geschriebene Chöre zeigen wieder den gewiegten Kontrapunktiker der Bach-Schule- (Was betrübst du dich, meine Seele? Sechsstimmige Motette.) Das kompositorische Rüstzeug handhabte Reissiger ganz vorzüglich. Kanonische Führungen, doppelter Kontrapunkt, Fugen standen ihm jederzeit zur Verfügung. Als Studienmaterial wären manche Reissigersche Kompositionen daher sehr wohl zu empfehlen.
Besondere Erwähnung verdienen die Orchestermessen. In ihnen wandelt Reissiger in klassischen Bahnen, in der bereits angedeuteten Art; also manchmal mit weltlichen Anklängen. Bis an die tiefsten Tiefen des Textes geht er nicht heran. Die Reissiger-Messen dürften immerhin zu den besten zeitgenössischen Werken dieser Art gehört haben. Weithin ging der Ruf derselben, daß sogar Berlioz in Paris Interesse bekam, sie zu hören. Einzelne Chorstellen haben breitausladenden, wuchtigen Charakter (z. B. die Gloriastelle der As-Dur-Messe und das Sanctus der H-Moll-Messe). Melodisch sind sie natürlich bei einem um thematische Erfindung nie verlegenen Tonsetzer alle, selbst die Credostellen, die infolge ihres abstrakten Inhalts die meisten Komponisten etwas verlegen behandeln. Originell ist das Credo der As-Dur-Messe, welches sogar eine neuere Erscheinung der Musikgeschichte (Verismo) vorwegnimmt, nämlich das getragene Rezitieren des Textes über einem melodischen Orchesterunterbau. Die Enharmonik ist an manchen Stellen ebenfalls sehr wirksam verwendet, da die Absicht, das gerade den religiösen Stimmungen eigene Schweben von der Musik her zu unterstützen, in einer Kirchenkomposition sehr berechtigt ist („Agnus Dei” der H-Moll-Messe, in dem Offertorium „Non nobis”). Dem Posaunenzeitalter, in welchem Reissiger lebte, trägt die D-Moll-Messe (Posaunenmesse) Rechnung, eine Ausnahme für Dresden, da die Posaunen in der Katholischen Hofkirche eigentlich verboten waren. Mehrere kleinere Messen, für ein Gesangsquartett mit Orgel, schrieb Reissiger noch auf Anordnung des Königs Johann für das Hoflager in Pillnitz und nannte sie „Figuralmessen“.
Die Reissiger-Messen, sowie viele der für die Katholische Hofkirche in Dresden komponierten Gradualien und Offertorien sind noch heute ständig in gottesdienstlichen Gebrauch.
Der Erfolg der Mendelssohnschen Oratorien scheint dann auch der Anlaß zu Reissigers Oratorium „David“ geworden zu sein. Es war nicht möglich, Einblick in dasselbe zu erhalten, aber zeitgenössische Kritiken bezeichnen es als im Stile der Messen gehalten. Eine Stelle in Wagners Briefen scheint sogar Interesse der Wagnerianer für Reissigers Oratorium und einige andere Sachen anzudeuten. Reissiger selbst dirigierte außer in Dresden Aufführungen des Oratoriums in der Berliner Singakademie und in Erfurt.

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20. 2. 2014 von Christian