Kreiser, Der Komponist

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auf Seiten 103-104 :

Wir haben nun nur noch der Klaviermusik Reissigers zu gedenken. Von ihr haben mir auch nur wenige Sachen vorgelegen, aber man konnte schon bemerken, daß Reissiger ein Kind der Virtuosenzeit (Weber), des um Dussek eingeleiteten Zeitalters der Brillanz war, noch lange nicht so tiefstehend aber, wie: etwa ein Herz und Hünten. Mit seinem in Wien komponierten Klavierkonzert hatte er, wie wir wissen, großen Erfolg. In einem Aufsatze der „Dresdner Morgenzeitung“ (1828, S. 6505), welcher gegenwärtige Erscheinungen der Musik behandelt, heißt es, daß von neueren Komponisten keiner außer Reissiger berechtige. ein zweiter Hummel zu werden. Der Aufsatz scheint fast das Rechte getroffen zu haben, denn Reissigers konzertmäßige Klaviermusik nimmt eine Mitte ein zwischen dem belangloscn Geklingel der Herz und Hünten und den Klavierkompositionen Mozarts und Webers. Reissiger verbindet klangvolle Melodien und motivische Arbeit mit Stellen, die lediglich weiter schieben (Passage). Manchmal ist etwas Läuferwerk als nötig ist, vorhanden. Die leichter wiegende Salonmusik ist auch noch nicht so fade und gemeinverständlich, wie man sie später schrieb. Die Tänze sind „Spieltänze, keine Tanztänze“. Gelegentlich der
Herausgabe von Polonäsen werden Reissiger sogar „allerschärfste, schneidendste Dissonanzen, Vorhalte und Durchgänge, das oft urplötzliche Umwerfen der Harmoniefolge bis ins Entlegenste“ vorgeworfen‚ also eine gut moderne Erscheinung bereits bei ihm. Das der Clara Wieck gewidmete Rondo, op. 83, enthält viele chromatische Schritte, hätte sonst aber für die Wieck technisch noch viel schwieriger sein können. Die hervorstechenen Merkmale an einer Kompositionsgattung (z. B. Chromatik beim Lied) sind natürlich hier und da auch bei anderen Gattungen zu finden. ——- Reissigers wirklich gelungene Arbeiten sind, um auch noch diese Gattung zu streifen, die Sonaten für Pianoforte und Violine (op. 47) und für Pianoforte und Cello (op. 147). Die Voranstellung des Klaviers sagt schon, daß dieses selbständig an der Arbeit teilnimmt, also dem Streichinstrument nicht untergeordnet ist.
Das erste (diatonische)Thema der Sonatensätze hat gewöhnlich energischen, hingegen das zweite (oft chromatische) zu weichlichen sentimentalen Charakter.
Überblicken wir das ganze Schaffen Reissigers, so stehen wir, wie schon der kurze Abriß erkennen läßt, vor einer Fülle von Erscheinungen‚ die uns Achtung abnötigt. Ein unbedingter Beherrscher der Formen, der großen und kleinen, wie sie nur je von ihm erdacht worden waren. Er erfüllte sie alle mit Inhalt, mehr oder weniger glücklich. Die Grenzen seines Schaffens finden wir in einem abgeklärten, hauptsächlich heiteren Gemüt begründet, welches für das irdische Leben sehr schätzbar ist, aber andererseits natürlich des faustischen Ringens, welches neue Formen gebiert, entbehrt. Die ganze Epigonen-Epoche erscheint wie ein Genießen im Schaffen, nicht ein Ausschauen nach Neuland, sondern ein Auskosten des schon Errungenen. Und seien wir nicht hart. Gab es nicht den Klassizisten der große Erfolg das Recht, auf ihrer Bahn zu bleiben? Sie waren auch nur Menschen. Sollte etwa Reissiger, dessen Liederschaffen z. B. geraume Zeit in Deutschland das Gebiet fast allein beherrschte , oder dessen Kammer- und Kirchenmusik nach klassischem Muster großen Ruf genoß, lieber nichts in dieser Richtung schreiben? Das klassische Ideal, welches die Epigonen hoch hielten, war ja wahrhaftig kein schlechtes. Wenn dazu noch ein liberales Verhalten gegenüber größeren Modernen, wie es Reissiger übte, hinzukommt, so kann die Geschichte versöhnt sein. ——-Hochzuschätzen ist, daß, wie schon Rellstab betont, Reissiger in der „an Kontrapunkten so armen Zeit“ des Überganges immer auch die strengen Formen mit gepflegt hat. Er hat z. B. einmal ein Menuett kanonisch behandelt. Reissigers Kunst ist also zwar keine bahnbrechende‚ so doch eine achtunggebietende Äußerung eines ehrlichen deutschen Talentes.

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20. 2. 2014 von Christian