Kapitel 2.
Zu Ostern 181l verließ Carl Gottlieb, l3 Jahre alt, das romantisch gelegene heimatliche Städtchen mit seinem alten Bergschloß Eisenhard, an welches er in späterer Zeit noch so gern erinnerte, und begab sich, vom Vater geleitet, nach der Stadt des Thomaskantors. Der Vater erstrebte, damit ihm die Ausbildung nicht zu teuer würde, die Aufnahme des Sohnes als Alumne. Dies war aber u. a. von musikalischer Begabung und einer guten Stimme sowie von einer schulärztlichen Untersuchung abhängig, welche die vollkommene Gesundheit des Aufzunehmenden festzustellen hatte. Die letztere Bedingung konnte insofern augenblicklich erfüllt werden, als von den Folgen eines in früher Kindheit erlittenen Bruches des linken Schlüsselbeins und damit zusammenhängender Erschütterung der Halsnerven vorläufig nichts mehr zu bemerken war. Die musikalischen Fähigkeiten wurden durch eine Prüfung, die der damalige (seit 1810) Thomaskantor Schicht vernahm, erwiesen. Er ließ den Kleinen eine Arie: „Singt dem göttlichen Propheten“ a prima vista singen. Die Probe verlief günstig, und der Vater war glücklich, daß der Sohn gleich von Anfang an ins Alumneum aufgenommen werden konnte. So hatte seine ausgezeichnete Stimme dem kleinen Reissiger schon hier den Lebensweg bahnen helfen. …
Mit Reissiger konnte Rektor Rost aber auch in wissenschaftlicher Beziehung zufrieden sein. Schon nach einem halben Jahre bekam er eine Prämie als fleißiger Schüler. Während der ferneren Schulzeit in der Thomana (bis l. April l8l8) erhielt er noch vier Prämien, und es heißt, daß er wegen seines Fleißes ein Liebling der Lehrer war. Besonders in den alten Sprachen soll er sich ausgezeichnet haben. Für seine innere musikalische Bildung konnte es nichts Geeigneteres gehen, als als Mitglied im altberühmten Thomanerchore zu wirken. …
Reissiger hatte das Glück gehabt, eine von den zwei sogenannten „Ratsdiskantistenstellen“ zu erhalten. Sie gewährten dem Inhaber den Vorteil, von dem anstrengenden Kurrendesingen in den Straßen befreit zu sein und dafür mehr Zeit für die Studien zu behalten. Der andere Ratsdiskantist zu Reissigers Zeit war Stallbaum, der spätere bekannte Rektor der Thomana. …
Reissigers musikalische Begabung war nach den ersten Jahren zu auffallend geworden, um von einem Manne wie Schicht nicht erkannt zu werden. Nachdem Reissiger zum Altsolosänger aufgegrückt war, wurde Schicht mehr auf ihn aufmerksamm und bot ihm freien Klavierunterricht an. Wie erstaunte er aber, als er hörte, daß Reissiger sich während der Freistunden der Schule heimlich auch schon mit Musiktheorie befasst hatte. …
Schicht gab ihm nun auch nebenher manche Unterweisung in Komposition, so daß Reissiger, als er 1816 Präfekt einer Chorabteilung geworden war, und damit das Recht erlangt hatte, dem Chor eine eigene Motette vorzulegen, schon recht talentierte Proben abgeben konnte, die der Chor in der Sonnabendmotette aufführte. Dies alles geschah aber noch ohne die Absicht, sich der Musik einmal ganz zu widmen. Mancher Seelenkampf wird sich indessen in der Brust des jungen, bereits aufgeführten Tonsetzers abgespielt haben, zumal sich in den letzten Schuljahren sein musikalischer Gesichtskreis noch erweitern konnte. Er gehörte nämlich zu den auserwählten Sängern des Chores, welche im Abbonementskonzert des Gewandhauses mitwirken durften, und dabei lernte er nun auch die weltliche Musik kennen.