Nachruf Unsere Tage

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Unsere Tage. Blicke aus der Zeit in die Zeit, 14. Heft, S. 67f
Braunschweig, Druck und Verlag von George Westermann 1860

Karl Gottlieb Reissiger

Die nachfolgenden Zeilen wollen ein kurzer zusammenfassender Bericht über die wichtigsten Tätigkeiten und Lebensverhältnisse eines Musikers sein, der vor Kurzem von uns geschieden. Wir glauben einen solchen Rückblick der Erinnerung eines Künstlers schuldig zu sein, der, wenn auch das Höchste zu erreichen, ihm nicht beschieden war, doch durch die große Anzahl seiner Produkte lebhaften Arbeitsfleiß und Begabung bekundete, als Dirigent bis an sein Lebensende mit Liebe tätig war, und auch durch vereinzelte seiner Kompositionen, namentlich unter seinen Liedern, einen gewissen Grad von Popularität erlangt hat.
Wenige Tage nach dem Hinscheiden seines Freundes Spohr starb auch Reissiger zu Dresden am 7. November 1859 an einem Schlaganfall, nachdem er noch am 5. in der Hofkirche seinen Dienst versehen hatte. Er war am 31. Januar 1798 zu Belzig bei Wittenberg geboren. Sein Vater (ein Schüler Türks) war Kantor daselbst und erteilte ihm den ersten musikalischen Unterricht, brachte ihn jedoch 1811 auf die Thomasschule zu Leipzig, woselbst Schicht alsbald das dem Knaben innewohnende Talent erkannte und durch Unterricht im Klavierspiel zu entwickeln suchte. 1818 bezog Reissiger die Universität Leipzig als Student der Theologie, 1820 entsagte er jedoch diesem Studium und wendete sich unter Schicht’s Leitung gänzlich der Tonkunst zu. Einige Kompositionsversuche (Motetten) soll er schon als Thomasschüler gemacht haben; nun förderte Schicht ihn nicht allein durch seinen vortrefflichen Unterricht, sondern schaffte ihm auch in Verbindung mit edeldenkenden Leipziger und Berliner Freunden eine dreijährige Unterstützung. 1821 verließ Reissiger Leipzig, um seine Musikstudien in Wien fortzusetzen, im Mai 1822 ging er nach München, nachdem er sich vor seiner Abreise noch in einem eigenen Klavierconcerto und einer Baßarie mit viel Beifall hatte hören lassen. In München genoß er Winter’s freundschaftlichen und belehrenden Umgang und komponierte sehr fleißig. Im Mai 1823 wandte sich Reissiger nach Berlin, erweckte hier die Teilnahme hochgestellter Männer, unter denen der Minister Altenstein und der General Witzleben, und erhielt auf deren Verwendung vom preußischen Könige die Mittel zu einer Bildungsreise nach Italien und Frankreich, mit der ministeriellen Anweisung, von den musikalischen Lehrstellen in beiden Ländern genaue Kenntnis zu nehmen, um Bericht darüber zu erstatten. Im Juli 1824 verließ er Berlin und kehrte erst Ende Oktober 1825 dorhin zurück, nachdem er über Holland, Paris, Turin, Genua, Mailand, Bologna, Rom besucht und am letztern Orte sich länger aufgehalten hatte. In Berlin wurde er neben Klein, Zelter und Bach bei dem musikalischen Lehrinstitute angestellt, gab außerdem Musikunterricht und füllte jede freie Stunde mit Komposition aus, so daß die Zahl seiner Werke schon um diese Zeit eine bedeutende Höhe erreicht hatte. Als er im Oktober 1826 zugleich mit einem Rufe nach dem Haag auch den Antrag erhielt, in Dresden an Marschner’s Stelle als königlicher Musikdirektor zu treten, gab er dem letzeren nach und ging schon im November desselben Jahres nach Dresden. Unter C. M. v. Weber noch in die Tätigkeit als königlicher Musikdirektor eingeführt, folgte er ihm später als zweiter Kapellmeister und leitete die Oper eine Zeit lang mit Morlacchi gemeinschaftlich, nach dessen Tode (1841) jedoch mit Richard Wagner. Bei Gelegenheit seines fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläums wurde er zum ersten Hofkapellmeister ernannt und verblieb in dieser ehrenvollen Stellung bis an sein Ende.

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10. 3. 2014 von Christian