Kreiser, 1. Studienreise

« 1 2 3 4»

auf Seiten 11-14:

Kapitel 3.

I. Studienreise Wien – München – Berlin. 1821-1823

Reissiger begab sich, nachdem ihm noch von den Freunden eine für seine ferneren Studien geeignete Bücherei geschenkt worden war, direkt nach Wien.
——-
Als Reissiger nach Wien kam, lebten von den Größten noch Beethoven und Schubert, und das Jahr 1821 ist in der Musikgeschichte ein geweihtes. Beethoven schrieb die Missa solemnis, Schubert die unvollendete Sinfonie. Michael Vogl, der bekannte Sänger. hatte am 7. März zum ersten Male Schuberts Erlkönig öffentlich gesungen, und die Ballade erschien als Opus l in diesem Jahre im Druck. Bedauerlicherweise ist Reissiger mit den beiden Großmeistern nicht persönlich bekannt geworden. Beethoven war schon der infolge, seiner völligen Taubheit ganz
zurückgezogen lebende Meister. Über Reissigers Verhältnis zu Schubert klärt uns ein sechsunddreißig Jahre später (20. Dezember 1857) geschriebener Brief des Ersten auf:
Auf Ihr sehr wertes Schreiben bedaure ich Ihnen erwidern zu müssen, daß damals meine große Schüchternheit mich leider nicht zu einer näheren Bekanntschaft mit dem uns allen unvergeßlichen Franz Schubert kommen ließ, von dem ich schon anno 1821 soviel Rühmliches hörte, der mir aber von meinen näheren Freunden als schwer zugänglich geschildert wurde.Auch in den wenigen Tagen meiner Durchreise anno l825, wo ich mich sehnte, Schuberts Bekanntschaft zu machen, gelang mir dies nicht, da derselbe krank war…..
——-
Mußte Reissiger also auf die beiden genialsten musikalischen Ratgeber, die die Welt damals besaß, verzichten, so nützte er dafür alles andere fleißig aus, was ihm wertvoll werden konnte. — Reissiger kam gerade nach Wien, als im musikdramatischen Schaffen der Kampf zwischen Deutsch und Italienisch am heftigsten tobte. Der Rossinitaumel der Wiener am Anfang der zwanziger Jahre ist ja bekannt. —– Aber die Deutschen arbeiteten langsam, doch sicher vorwärts. Der Dichter Holtei, die Kritiker Mosel und Kanne traten für die deutsche Oper ein, und ein Sieg, wie er seit Mozart nicht dagewesen, sollte bald kommen. Am 3. November 1821 wurde der „Freischütz“ zum ersten Male in Wien gegeben und fand begeisterte Aufnahme. Bald darauf (20. Dezember 1821) hatte noch eine deutsche, wenn auch etwas italienisierende, romantische Oper Erfolg: Spohrs „Zemire und Azor“. Das alles erlebte der junge Reissiger persönlich, und es verfehlte natürlich auch nicht seine Wirkung auf ihn, denn mutig sehen wir ihn seine erste Oper „Das Rockenweibchen“ komponieren. Wenn auch das Werk selbst wegen des Textes die Zensur nicht passierte – bei den berüchtigten Zensurverhältnissen der Ära Metternich nichts Ungewohntes –, also eine Aufführung nicht zustande kam, so führte doch die erfolgreiche Ouvertüre den jungen Komponisten sehr günstig beim Theater ein. Er erhielt freien Eintritt in die K. K. Hoftheater. Unter den weiteren Ouvertüren, die er für dieselben schrieb, befindet sich auch eine Schauspielouvertüre „Käthchen von Heilbronn“. — Für Caroline Unger, die gefeierte Bühnensängerin und Verlobte Nik. Lenaus, schrieb er in Wien die „Geheimen Schmerzen“.
——-
Daneben setzte Reissiger aber auch die theoretischen Studien fort, und zwar bei Salieri, dem Italiener. der als Opern- und Kirchenkomponist trotz seiner Abstammung später Glucksche Prinzipien vertrat und von Gluck selbst begünstigt worden war. Beethoven und Schubert waren schon seine Schüler gewesen. Die praktischen Studien im Pianofortespiel hat Reissiger natürlich in Wien ebenfalls fortgesetzt. Wir wissen. daß er mit Czerny bekannt war, und da dessen Unterricht um diese Zeit schon ein gesuchter in Wien war, so ist wohl zu vermuten, daß Reissiger ihn genossen hat. Reissiger hat in Wien ein Klavierkonzert komponiert und dasselbe auch öffentlich vorgetragen. Wir lesen in der A. M. Z. (1822 Seite 114, Kärntner-Thortheater betr.): „… so erntete unlängst unser Landsmann Reissiger zwiefache Lorbeeren, zuerst als Sänger durch den kraftvollen Vortrag der herrlichen Baßarie in H-Moll aus Handels Messias, sodann als Virtuose auf dem Pianoforte in einem ungemein solid gearbeiteten Konzerte aus Es-Dur“. Wir sehen aus diesem Bericht, daß Reissiger auch wieder als Sänger aufgetreten ist.
——-
Im Mai 1822 verließ er Wien, um sich noch bei einer anderen zeitgenössischen Autorität Anregungen zu holen, bei dem Hofkapellmeister Peter v. Winter in München. Vieleicht war Reissiger von Salieri auf Winter hingewiesen worden, denn Salieri und Winter waren sehr befreundet.
——-
Neben Kirchenmusik lernte Reissiger bei ihm auch originelle Kammermusik kennen, originell vor allem in bezug auf die Besetzung, was auf Mannheimer Einflüsse zurückgeht. Wenn Reissiger später Kammergesänge oder Konzertanten für Bläser mit Orchester schrieb, so werden wir die Anregungen dazu bei Winter zu suchen haben.
Reissiger entwickelte nun in München eine ebenso fleißige Tätigkeit wie in Wien. Winters Freundschaft gewann er durch die Komposition einer Konzertouvertüre, zu welcher Winter ein Thema in fünf Noten gegeben hatte. Bei der öffentlichen Aufführung fand dieselbe solchen Beifall, daß der Hoftheater-Intendant bei ihm sogleich eine Schauspielmusik bestellte, und zwar zu einer Tragödie „Nero“. Reissiger schrieb die Ouvertüre (sie erschien (4-händig) bei Breitkopf & Härtel), die Chöre und einige Zwischenakte, und erntete damit auch Beifall, so daß sich Winter ernstlich um ein Opernlibretto für Reissiger bemühte. Er hielt „Didone abandonata“ des berühmten Librettisten Metastasio für geeignet, auch von Reissiger komponiert zu werden; denn der Text war bereits vielfach vertont worden. Dido wurde etwas zurechtgestutzt, und Reissiger komponierte nun seine zweite Oper (die einzige italienische). Aber das Schicksal, das ihm sonst so wohlwollte, spielte ihm auch in München einen Streich wie damals in Wien, als es sich um die Aufführung einer Oper von ihm handelte. Der Brand, welcher das Hoftheater in Schutt legte, verhinderte die Aufführung der bereits angenommenen Oper.
In München vollendete Reissiger dann fernerhin noch eine feierliche Messe, welche er schon in Wien begonnen hatte, und mit welcher er Winter sehr erfreute.
——-
Die Vermutung, daß Reissiger seine überall gerühmten stimmlichcn Anlagen noch von Winter, der eine noch bis auf den heutigen Tag geschätzte Singschule herausgegeben hatte, besonders hat schulen lassen, wurde uns durch Einsichtnahme eines in den Akten des Leipziger Ratsarchivs befindlichen Gesuches bestätigt, worin Reissiger schreibt, daß er bei Winter auch Gesangsunterricht genommen habe.
Dreiviertel Jahr war Reissiger bereits in München, als er aus Leipzig die Kunde von einer Erkrankung (es war die letzte) seines Wohltäters Schicht bekam, und zwar erhielt er gleichzeitig eine Aufforderung, begleitet von einem sehr ehrenvollen Schreiben des Leipziger Rates, die Vertretung des Thomaskantors zu übernehmen.

« 1 2 3 4»

13. 2. 2014 von Christian