Kreiser, Der Komponist

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auf Seiten 94-97 :

Kapitel 6.

Allgemeines über Reissiger als Komponist.

Wir müssen zu Anfang dieses Kapitels auf das Vorwort zurückweisen, wonach wir durch die Zeitverhältnisse gezwungen sind, uns hier nur auf einen Abriß zu beschränken. Das Schaffen Reissigers ist ja auch quantitativ und qualitativ so vielseitig, daß es eine Abhandlung für sich beansprucht.
Reissiger war eins der produktivsten Talente der Musikgeschichte. Er schrieb über zweihundert Werke, wovon ca. die die Hälfte auch noch dazu bis zu sechs Einzelkompositionen enthält. Wir stehen fast vor einem Rätsel, wie das bei seiner außerordentlich angestrengten Amtstätigkeit möglich war. Wie bereits früher erwähnt, ist ja nicht alles gleichwertig. Namentlich unter den zahllosen Liedern, die das eigentliche Feld seines – des Lyrikers – Schaffens gewesen sind, und die ihm die größten Erfolge eintrugen, sind große Unterschiede festzustellen. Um ein Gesamtergebnis vorwegzuehmen, welches für alle von Reissiger bebauten Kompositionsgattungen zutrifft – und er hat tatsächlich jede bestehende Form mit Inhalt erfüllt – ‚ so können wir sagen, daß wir auf Schritt und Tritt die Einflüsse seiner vielseitigen Ausbildung antreffen. Die Bildung seines herzlichen, deutschen
Gemütes durch den Vater und seinen Wohltäter Schicht im klassischen, soliden, deutschen Geiste Bachs und Beethovens, die Einflüsse der italienisch-deutschen Halbindividualitäten Salieri und Winter, Frankreichs Rhythmen, Italiens Melodien, auch Nachwirkungen Mozartscher Kantabilität in instrumentalen Partien ergeben einen Mischstil, der, wenn er dazu eine streng persönliche Note erhalten hätte, sehr wohl berechtigt wäre, aber bei Reissiger doch hauptsächlich Mischstil bleibt. Das schließt jedoch mehrere recht gelungene Ausnahmen keinesfulls aus. Für den Dirigenten Reissigeir war die vielseitige Bildung, die ihm geboten wurde, wertvoll‚ für den Komponisten jedoch nicht unschädlich.
Wir betrachten zuerst die Lieder etwas näher. Daß Reissiger vor allem Liederkomponist war, das allein schon ist kennzeichnend für sein Deutschtum; denn andere Völker haben die Gattung Lied nicht. In seinen Liedern ist auch der Mischstil am wenigsten ausgeprägt. ——- Der Text wird einfach deklamiert, nie ist eine Vergewaltigung desselben zu finden, wie überhaupt Reissiger äußerst gesanglich schreibt. Wir wissen, er war selbst Sänger.
In der Melodiebildung haben wir zwei Typen bei ihm zu unterscheiden. Lieder mit und ohne Chromatik. Beim chromatischen Typus geht die melodische Linie immer indirekt auf ihr Ziel los, das heißt: nach einigen ansteigenden diatonischen Melodieschritten wird kurz vor dem Ende der zweiten Zweitaktgruppe erst noch ein chromatischer, ein Leitton, eingeschoben, der dann bei der Nachahmung in den folgenden Gruppen dem ganzen Liede einen weichlichen, süßlichen Charakter verleiht. Diese Lieder sind zu Reissigers Zeit die gangbarsten gewesen. Es war der mehr feminin gerichtete Geschmack des Vormärzpublikums, und Reissiger konnte ihm im Zeitalter der „Albumanie“ gleich hefteweise entgegenkommen, da es ihm ungemein leicht fiel, ihn zu befriedigen. Reissiger klagt einmal selbst, er habe leider viel zu viel Lieder komponiert, so daß er kaum noch Texte finde. Also wird er in der Textwahl oft nicht streng genug gewesen sein. Diese Lieder sind nun mit der Zeit, für die sie geschrieben, vergangen. Der eingeschobene Leitton, der der Sentimenialität Vorschub leistet‚ war eine Verfallserscheinung.
Daß man diese Lieder vergessen hat und sie nur noch historisch batrachtet, ist nicht verwunderlich. ——- Wie man aber dabei auch einen Teil der wirklich guten Sachen vergessen konnte, das haben wir an anderer Stelle bereits eine Ungerechtigkeit der Geschichte bezeichnet. Wir kommen damit zum zweiten Typus der Reissigerschen Lieder. Bei ihm finden wir vorwiegend diatonischc Melodiebildung, welche schon von selbst eine kraftvollere, männlichere Haltung bewirkt. Dazu kommen prägnante Rhythmen und eine herbere, oft überraschende Harmonik, die trotzdem nicht gesucht erscheint. Hier schwingt gesundes, deutsches Empfinden, im Gegensatz zu der etwas kränkelden Empfindsamkcit der ersten Liedergruppe. Daß Reissiger auch der zweiten Art fähig war, ist der Beweis, daß dies der eigentliche Grundzug seines Gemütes war, welches nur durch die Beimengung eines gewissen Triebes, allen Menschen gerecht werden zu wollen, ihn auch dem ersten Typus huldigen ließ. Unserem Empfinden nach übertrifft Reissiger mit seinem zweiten Typus die objektive, formale Kühle, die rein melodische Auffassung der Mendelssohnschen Lieder; und man sollte in einer neuen Auswahl diese Lieder unserer Hausmusik wieder einverleiben. Die Klavierbegleitungen sind nicht schwer, wenn sie auch oft vom einfachen Akkordischen zu charakterisierenden Figuren übergehen. Kleine Vor- und Nachspiele treffen manchmal die Stimmung des Textes ausgezeichnet.
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Es erscheint darin alles so natürlich aus dem Text herauszuwachsen, frei von gekünstelter Pose, dabei immer eine einheitliche größere Linie wahrend, wie bei den Klassikern. Diese Lieder sind dann auch durchkomponiert, während sonst Reissiger die strophische Form als die volkstümlichere bevorzugt. In den komischen Liedern waren seine Vorbilder: Weber und Marschner. Sonst ist von einer Beeinflussung des Liederkomponisten Reissiger, etwa durch Schubert oder auch Schumann, nicht zu sprechen. Reissiger hat Schubert, wie wir aus dem früher mitgeteilten Briefe wissen, sehr verehrt, aber seine Entwicklung als Liederkomponicst war in den zwanziger Jahren abgeschlossen. Die gelungensten Kompositionen dieser Gattung schrieb Reissiger in der Jugend, während die späteren Jahre ein Verflachen kennzeichnet. ——- Bemerkenswert ist, daß Reissiger einer der ersten Komponisten von sogenannten „Kammergesängen“ ist, denn wir finden Lieder mit der selteneren Begleitung des Hornes neben dem Pianofortc (op. 117), oder z. B. das Lied „Warum so ferne” (Wolff) für eine Sopranstimme mit Pianoforte und Cello, ferner „An ihr Veilchen“ für eine Singstimme. Pianoforte, Cello und Flöte, oder ein Lied „Mit geheimnisvollen Dunkeln“ für Sopran, Harfe und Horn. Großen Beifall fanden auch seine Sologesänge für Baß (auch seltener gepflegt!). Er wendet da manchmal eine uns heute nicht mehr so geläufige Form an, die er „Konzertszene“ (Szene und Arie) nennt. Als eine Konzession zui die Beliebtheit der Gitarre oder der Physharmonika (Vorläufer des Harmonims) zu seiner Zeit ist es wohl anzusehen, wenn Reissiger viele Lieder von diesen Instrumenten begleiten läßt.
Was seine Textdichter anlangt, so hat er fast alle Deutschen mit der Vertonung mindestens einer ihrer Texte bedacht. Am meisten bevorzugte er moderne Dichter. Aber die bekannte Tatsache, daß vorzügliche Texte auch im Komponisten edlere Saiten zum Mitschwingen bringen, wird auch hier bei Reissiger bestätigt. Wir können sagen: hätte Reissiger seiner Muse mehr Muße gegönnt, wir hätten nur gute Lieder des zweiten Typus erhalten, und Reissiger wäre heute als Liederkomponist noch nicht in dem Maße vergessen. Die Gattung Kunstlied hätte mehr Bereicherung erfahren, denn er hätte das Zeug gehabt, wie Beispiele belegen; so aber ist Reissiger hauptsächlich ein Vertreter des leichter wiegenden volkstümlichen Liedes geworden.

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20. 2. 2014 von Christian