Nachruf Deutscher Bühnenalmanach

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Deutscher Bühnenalmanach, Band 24, Berlin, 1. Januar 1860, S. 155-166
herausgegeben für die „Perseverantia“,
Alter-Versorgungs-Anstalt für Deutsche Theater-Mitglieder

Karl Gottlieb Reissiger
Königl. Sächsischer Hofkapellmeister,
gestorben zu Dresden am 7. November 1859

Kaum sind die Trauerklänge verhallt, welche erst vor wenigen Monden an dem Grabe des Altmeisters Spohr ertönten, als schon wieder der Tod dem frischen, reichbewegten Leben eines würdigen Meisters der Tonkunst sein finsteres Halt gebietet.
Karl Gottlieb Reissiger verschied am 7. November 1859 zu Dresden. Mitten unter den freudigen Zurüstungen zu dem nationalen Dankfeste, welche zur Säkularfeier der Geburt Fr. v. Schillers auch in Dresden in so kunstsinniger und reicher Weise getroffen wurden, schied der als Mensch offene, biedere und liebenswürdige, als Komponist in allen Kreisen durch Anmut, Frische und Lieblichkeit seine Melodien gekannte und geliebte Mann von dieser Erde. Ehren wir das Andenken eines Mannes, welcher aus alter, tüchtiger Schule stammend, den reich sprudelnden Quell seiner Melodien mit redlichem Streben nur zur Erreichung edlster Ziele in der Welt der Töne fließen ließ, indem wir seinem Lebenslauf einen dankbaren Kranz der Erinnerung und Liebe flechten.
Karl Gottlieb Reissiger war der Sohn eines armen Kantors in Belzig bei Wittenberg und wurde daselbst am 31. Januar 1798 geboren. Frühzeitig entwickelte sich schon das musikalische Talent des Knaben. Schon in seinem 10. Jahre war er – ein für den damaligen Standpunkt musikalischer Fertigkeit gewiß seltener Fall – so vorbereitet, daß er sich öffentlich in einem Konzerte auf dem Klavier konnte hören lassen. Sonntags leitete er in der Kirche den Gesang auf der Orgel. Ungeachtet der Knabe von Musikkennern viel bewundert wurde, und man dem Vater die fleißige Ausbildung seines Talents anriet, war dieser doch zu unvermögend, irgend etwas hierauf wenden zu können. Indes setzte er, selbst ein tüchtiger Musiker, den musikalischen Unterricht bis zum Jahre 1811 allein fort, wo es ihm endlich möglich wurde, den hoffnungsvollen Sohn auf die Thomasschule in Leipzig zu schicken, wo er so glücklich war, sogleich eine Alumnenstelle zu erhalten. Diese verdankte er einer glücklich bestandenen Probe vor dem würdigen Kantor dieser Schule, Schicht, welcher überhaupt auf seine musikalische Entwicklung mächtig einwirkte. Der damals 12jährige Knabe sang die ihm als Probestück vorgelegte Arie aus der Graun’schen Passion: „Singt dem göttlichen Propheten“ prima vista und ohne allen Anstoß. Auf der Schule zeichnete er sich in den wissenschaften durch großen Fleiß aus, machte durchweg erfreuliche Fortschritte und wurde bald der Liebling seiner Lehrer. Seine musikalische Fortbildung, wie namentlich sein Klavierspiel unterlag manchen Hemmnissen. Zu arm, ein Klavier zu kaufen oder auch nur zu mieten, wurde ihm kaum die Gelegenheit, zu üben, da der gemeinschaftliche Flügel nur den erwachsenen Schülern zugänglich war. Schicht’s Aufmerksamkeit lenkte sich mit voller Liebe auf ihn, als er zum Solisten im Alt vorgerückt war. Er erkannte bald das eminente Talent des jungen Sängers und gab ihm zunächst Unterricht im Klavierspiel. Der sich mächtig in dem Knaben regende künstlerische Geist nahm von jetzt an, genährt durch die verschiedensten Musikaufführungen, einen so hohen Aufschwung, daß ihn das einseitige und etwas pedantisch geleitete Studium nicht mehr befriedigte. In den wenigen Mußestunden setzte er, mitten in dem Lärmen und Toben seiner Mitschüler, die ersten Motetten. Meist aus den Jahren 1815 und 1816 herrührend, werden diese ersten Jünglingsarbeiten noch jetzt in den Vespern von dem Chore der Thomasschüler gesungen. Zum eigentlichen Durchbruch kam jedoch seine künstlerische Begabung noch nicht. Erst als er im Jahre 1818 mit den glänzendsten Zeugnissen die Universität Leipzig bezog, um hier Theologie zu studieren, als er 2 Jahre lang dem, ihn innerlich wenig befriedigenden Studium unter Sorgen und Entbehrungen oblag, als er die wenigen, der körperlichen Erholung gewidmeten Stunden auf die emsigste Fortbildung in der Komposition verwandte, erkannte Schicht seinen Beruf zur Kunst und erbot sich, ihm wirklichen Unterricht in der Komposition zu erteilen. Die Wege wurden ihm erleichtert, denn die mancherlei vorteilhaften Bekanntschaften, welche er seinem geschmackvollen Klavier- und Orgelspiel, wie einer großen Fertigkeit im Gesange verdankte, kamen ihm gleich bei diesem Vorhaben freundlich entgegen. Jetzt erst gewann der bis dahin ihm selbst unklar gebliebene künstlerische Drang eine sichere Grundlage. Die theologischen Studien erlitten nun einen gewaltigen Stoß; von jeher im Konflikt mit der von ihm so heißgeliebten Kunst, konnten sie nur so lange die Oberhand behalten, als der Jüngling ohne äußeren Schutz und Anhalt, in den Banden eines bekümmerten Schicksals, auf dem Gebiete der Kunst zwar mit genialer Kraft, aber doch ohne Führer schwankend und ohne Selbstvertrauen umherirrte. Manchen Zeufzer hatte ihm diese Unzuverlässigkeit seines Ziels erpreßt! Jetzt taten sich ihm Mittel und Wege auf. Der wackere Schicht verließ ihn nicht, als er nun förmlich mit dem Studium der Theologie brach und sich ganz in die Arme der Kunst warf. In Verbindung mit seinem Schwiegersohn Weiße, dem Direktor der Leipziger Feuer-Versicherungs-Anstalt, sorgte er für den Jüngling auf das Tätigste. Edle Beschützer in Leipzig und Berlin traten zusammen und gaben die Mittel zu einer dreijährigen Unterstützung des vielversprechenden Kunstjüngers her. Ihrer Hilfe verdankte er zunächst eine kleine Bibliothek auserlesener musikalischer Werke. Im Übrigen vollständig ausgerüstet, verließ der überglückliche Reissiger 1821 Leipzig und ging nach Wien, um dort seine Studien fortzusetzen. Hier komponierte er seine erste Oper: „Das Rockenweibchen“. Das Buch passierte aber die Zensur nicht und so mußte die Aufführung unterbleiben. Die in Konzerten vorgeführte Ouverture gefiel jedoch sehr. Mehrere andere Ouverturen, welch er für das Hofburgtheater setzte, verschafften ihm den freien Eintritt in das Kaiserliche Theater. Die damals vortreffliche deutsche Oper in Wien verfehlte ihren bildenden Einfluß auf den jungen Reissiger nicht. Ehe er Wien verließ, trat er noch als Sänger und Klavierspieler im Hofoperntheater mit großem Beifall auf. Mehrere seiner Kompositionen erschienen bei Artaria und Steiner im Druck. Im Jahre 1822 ging er nach München. Durch Winter’s Umgang belebt, nahm seine schöpferische Tätigkeit einen hohen Aufschwung. Eine Messe, welche er fertig nach München brachte, erwarb ihm Winter’s ganze Freundschaft. Dieser stellte ihm einst zu einer Konzert-Ouverture ein Thema in fünf Noten. Sie erregte solches Aufsehen, daß ihm der Intendant des Hoftheaters sogleich die Kompositon der Ouverture, Chöre und Entreacts zu dem Trauerspiel „Nero“ übertrug. Auch diese Musik gewann sich die Anerkennung der Musikfreunde. Die Ouverture erschien später in einer Umarbeitung bei Breitkopf und Härtel. Winter ließ für ihn den Text zu Metastasio’s „Dido“ umarbeiten. Der Brand des schönen Hoftheaters hinderte jedoch die Aufführung dieser Oper. Im Jahre 1823 verließ Reissiger München und eilte nach Leipzig, um noch einmal seinen sterbenden Freund und Wohltäter Schicht zu sehen, und dann in Mai desselben Jahres nach Berlin.

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09. 3. 2014 von Christian