Rezension 1854: David

Niederrheinische Musik-Zeitung, Band 2, Nummer 27, 8 Juli 1854, S. 211f

Das Oratorium David, C. G. Reissiger’s neuestes und grösstes Werk.

F. B.

Unter allen jetzt lebenden Tondichtern Deutschlands hat wohl Niemand so viele und treffliche Werke für die Kirche, und namentlich für die katholische Kirche, geschrieben, als der in Dresden lebende Hofkapellmeister Reissiger. Sind seine veröffentlichten zahlreichen Kompositionen anderer Gattung durch den Reichtum an gefälligen Melodieen, so wie durch ihre klare Konstruktion längst allgemein bekannt und beliebt, so ist es um so mehr zu bedauern, dass die großartigsten Tondichtungen dieses Meisters bis jetzt unveröffentlicht und daher dem grössten Theile des deutschen musikliebenden Publikums fast gänzlich unbekannt geblieben sind. Reissiger hat für die königliche Hofkirche zu Dresden ausser vielen Gradualen, Offertorien u.s.w. ein grosses Requiem und zwölf Messen im edelsten Stile geschrieben, welche Werke bis jetzt größtenteils alleiniges Eigentum der königlichen Hofkirche sind. In diesen Tondichtungen bewährt er nicht nur ein großes Talent der Erfindung, sondern auch eine seltene Meisterschaft in allen kontrapunktischen Formen. Unter den lebenden Tondichtern ist uns kein Meister bekannt, der so treffliche Fugen geschrieben hätte, wie Reissiger in seinen Messen. Nehmen nun schon diese Kompositionen einen bedeutenden Standpunkt ein, so scheint doch der Tondichter in der Komposition des Oratoriums David sein grösstes und erhabenstes Werk geliefert zu haben. Ist dasselbe uns bis jetzt auch nur durch das Studium der Partitur, so wie durch eine Aufführung am Pianoforte näher bekannt geworden, so treten wir doch in jeder Hinsicht dem Urteile bei, welches C.Bank in Dresden über dasselbe nach einer daselbst stattgefundenen großartigen Aufführung folgendermaßen ausspricht: „Es würde zu weit führen, hier auf Beantwortung der Frage einzugehen, in wie fern noch die protestantische Oratorien-Musik, das evangelische Epos, welches sich als große Kunstform der volksmäßigen protestantischen Choral-Lyrik anschloss, eine Aufgabe der Gegenwart in der Tonkunst sein kann. Bezweifelt mag aber nicht werden, dass das Oratorium, aus dem begeisterten religiösen Ideenschwunge hervorgehend, welcher im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts in der Musik seinen Ausdruck fand, durch den Geist und die innere Glaubens-Wahrheit dieser Periode und die noch in allen Gemütern anklingende Bedeutsamkeit des Inhalts ein in jener Zeit tief wurzelndes organisches Leben fand, wie es der unsrigen entfremdet ist. In allen Kunst-Reproduktionen wird alle Begabung des Talentes, idealer Aufschwung, Reinheit des Geschmacks und kunstreich didaktische Technik nie die Kraft der Realität und naiven Ursprünglichkeit voll ersetzen können, eben so wenig, wie bei den Zuhörern ein geläuterter Kunstgeschmack die warme Empfänglichkeit innerster Sympathie und Überzeugung geben kann. „Abgesehen von der oben berührten Frage, ist die Aufgabe des Oratorien-Komponisten daher um so schwieriger. Denn in seiner Auffassung und Gestaltung gleichsam auf eine illusorische Welt im Verhältnisse zum Zeitgeist angewiesen, stellen sich ihm zwei Haupt-Anforderungen, so entscheidend in ihrem Genügen als schwer in ihrer Vermittlung, entgegen. Er muss in Erfindung und Form sich dem Geschmack und der musikalischen Empfindungsweise der Gegenwart anschliessen, für die er schreibt, und die Fortschritte der Instrumental-Mittel effektuierend benutzen; zugleich aber soll er auch dem würdigen Oratorien-Stile früherer Zeit treu bleiben, der, an sich schon balancierend zwischen religiös-kirchlichem Ernste und dramatischem freiem Ausdrucke, durch diese modernen Bereicherungen nur um so leichter schwankend wird und vom rechten Maße abirrt. „Die mit ausserordentlichem Talente, gediegenster Technik und künstlerischer Erkenntniss gelungene Erfüllung dieser Bedingnisse in dem Oratorium Reissiger’s erscheint daher als jene seltene und vor Allem hervorzuhebende Eigenschaft, welche ihm vor manchen anderen derartigen neueren Werken eine weit überlegene Berechtigung gibt und seinen übrigen Vorzügen eine lebendige Wirkung, Theilnahme und Anerkennung zuwendet. Der Componist hat im „David” bei reicher und charakteristischer Erfindung, dramatischer Wahrheit des Ausdrucks und einer oft sehr reizenden und dabei einfachen Melodik die ernste und religiöse Haltung und die Harmonie des Stils mit großer Meisterschaft durchgeführt. Die Instrumentation einigt ihr mannigfaches und effektuierendes Kolorit in würdevollem Maße mit dem charakteristischen Ausdrucke des Inhalts; die Durcharbeitung der Formen offenbart Geschmack und eine gewandte und gediegene Technik ohne künstlich gesuchtes Machwerk und eine einfache und natürliche, oft große Konzeption in der Struktur, mit Klarheit verbunden und ohne in zu große Dehnungen zu verfallen. Bilden diese allgemeinen Vorzüge der Komposition das Werk zu einem trefflichen Ganzen, das zugleich ohne auffällige reproduktive Anlehnung die Individualität des Komponisten vollkommen bewahrt, so erheben sich daraus einzelne Nummern durch charakteristische Kraft und Originalität der Gedanken und gelungene Durchführung zu besonderen musikalischen Schönheiten. Wir rechnen dahin zum Beispiel gleich den ersten Chor, den Sieges-Chor (Nr. 7), den Marsch und die KrönungDavid’s (Nr. 12), den Chor „Frohlocket” (Nr. 16), „Gott ist mein Hort” (Nr. 20), die beiden Schlusssätze etc., und in den Solosätzen ist es namentlich die Partie David’s, die sich durch eine edle Empfindungsweise und Wahrheit des melodischen Ausdrucks auszeichnet. „Das vorzügliche und für ähnliche Aufführungen höchst empfehlenswerte Werk des geschätzten Meisters wurde mit außerordentlichem Beifall aufgenommen, und die Aufführung war unter der Direktion des Komponisten und unter Mitwirkung der Dreyssig’schen Sing-Akademie und des Sängerchors des Herrn Musik-Direktors Schurig eine sehr gelungene. Besonders lobenswert war der Vortrag des „David” durch Herrn Tichatscheck und die vortreffliche und glänzende Leistung des Fräulein Grosser in der Sopran-Partie. Der Text die Geschichte des David in ihren Haupt-Momenten ist den Worten des alten Testamentes (den Büchern des Samuel) entnommen; in einem wesentlichen Wendepunkte derselben, dem Sündenfalle David’s, hat die Schwierigkeit des Ausdrucks zu einer Unklarheit für die weniger Bibelkundigen verleitet, und es möchte nötig sein, dieselbe durch Hinzufügung anderer Worte hinwegzuräumen.”

17. 2. 2015 von musikchristian