Kreiser, 1. Studienreise

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auf Seiten 15-18:

Außerdem können wir noch ein anderes Zeugnis aus München bringen, und zwar von dem Freunde C. M. v. Webers, Johann Nepomuk Poissl, welcher bald (1823) Hoftheater-Intendant wurde. Es lautet (bisher unveröffentlicht) :
„Nachdem der Tonkünstler Herr C. G. Reissiger während seines neunmonatlichen Aufenthalts dahier in München mir Unterzeidinetem hinreichend Gelegenheit gegeben hat, den ganzen Umfang seiner musikalischen Kenntnisse, sowie auch seiner ästhetischen und artistischen Bildung im allgemeinen vollkommen kennen zu lernen. und glaubt, daß eine freimütige Erklärung meiner von demselben gefaßten Meinungen ihm zur Empfehlung dienen könntte. so fühle ich mich aus Liebe zur Wahrheit und Achtung für jedes wirkliche Tailent verpflichtet, demselben hiermit folgendes aus meiner festen Überzeugung hervorgehendes Zeugnis auszustellen; Herr Reissiger besitzt neben ebenso tiefen als ausgebreiteten Kenntnissen in der gesamten Theorie der Musik, eine bis zur Fertigkeit gebrachte Übung im Spiel, und hat von der Vorsehung soviel Genialität erhalten und durch anhaltendes Studium so viele Erfahrungen erworben und einen solchen Grad der Geschmacksbildung erreicht, daß seine zu meiner Kenntnis gekommenen Werke im galanten Stil ebenso vorteilhaft für die großen Talente ihres Verfassers zeugen, als jene im strengen Stil. Belege dieses Zeugnisses sind für den strengen Stil eine große, solenne Missa, für den galanten Stil die italienische Oper Dido, beides Werke, die meines Erachtens jedem bereits im besten Kredit stehenden Komponisten Ehre machen würden. Außerdem besitzt Herr Reissiger die Fähigkeiten jedes Sängerchor und Orchester mit Präzision und Gewandtheit zu dirigieren, und vereinigt mit einer sehr bedeutenden Gesangskunde und Virtuosität als Klavierspieler eine seltene Fertigkeit im Lesen und Vortragen von Partituren, so wie er sich auch die so sehr wichtigen Kenntnisse der alten und neueren Sprachen, in denen sich die Musik zu bewegen pflegt, eigen gemacht hat. Diese sämtlichen Kenntnisse qualifizieren nach meiner Überzeugung zu jeder Kapellmeisters und Direktors Stelle; da aber Herr Reissiger mit denselben eine ganz besondere Fähigkeit zu unterrichten, sein Wissen ebenso systematisch als klar mitzuteilen, vereinigt, und auch seine Moralität ungeachtet seiner Jugend die vorteilhafteste ist, und in voller Ubereinstimmungmit seinem guten und soliden Charakter steht, so würde derselbe als Kantor an einer Kathedrale oder als Vorstand einer Chorschule vielleicht noch am besten an seinem Platze stehen und für die Kunst wie für das anvertraute Institut am nützlichsten wirken können. Indem ich auf mein Ehrenwort erkläre, daß ich die hier aufgezählten Eigenschaften an Herrn Reissiger wahrgenommen, mich von denselben völlig überzeugt habe, empfehle ich denselben jedermann, dem er seine Dienste anbieten könnte, aufs angelegentlichste und habe zu größerer Gewißheit für alle diejenigen, welche meiner Empfehlung Glauben und Gehör schenken wollen, gegenwärtigem Zeugnisse meine Handunterschrift und mein angestammtes Wappen beigefügt. Johann Nepomuk Freiherr v. Poissl, Königl. Bayrischer Kammerherr, des hohen St. Georg Ordensritter und Kommandeur des Großherzog. Haus- und Verdienstordens.“
Diese Zeugnisse sind so ausgezeichnet, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn Reissiger auf Grund derselben und bei dem ihm eben entgegengebrachten Wohlwollen des Leipziger Rates sich nun gleich um die Nachfolge im Thomaskantorat bewirbt. „Ich kenne die ganze Wichtigkeit des Amtes eines Kantors an der Thomasschule, aber mit dem Bewußtsein redlichen und eifrigen Strebens nach dem Höheren, mit dem Vertrauen auf die mir von Gott verliehene Kraft getraue ich mir, wahrlich ohne alle Anmaßung mit den Bewerbern um diese Stelle in die Schranken zu treten.“ Außer ihm bewarben sich noch neun andere Künstler, unter anderen Theodor Weinlig aus Dresden und Karl Loewe aus Stettin, der spätere berühmte Balladenmeister.
Wenn Reissiger nicht gewählt wurde, so war seine für dieses Amt zu große Jugend (25 Jahre) der einzige Hinderungsgrund gewesen. Gewählt wurde bekanntlich Theodor Weinlig, den C. M. v. Weber, welcher seit seinem Freischütz-Erfolg zur Weltberühmtheit aufgestiegen war, empfohlen hatte.

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13. 2. 2014 von Christian