Kreiser, Reissiger und Wagner

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auf Seiten 80-81 :

Nun wurde Wagner aber bekanntlich 1843 als Hofkapellmeister neben Reissiger angestellt. Reissiger war froh, nach sechzehn außerordentlich aufreibenden Jahren, in weichen er oft lange Zeit hindurch die ganze Leitung allein hatte (erst kürzlich wieder nach Morlacchis [1841] und des Musikdirektors J. Rastrellis Tode, so daß er die Rienzi-Vorbereitungen nur auf seinen Schultern ruhen hatte), eine junge deutsche Kraft zur Unterstützung zu erhalten, da sich gerade jetzt eine sehr verständliche Nervenüberspannung bemerkbar machte. Freilich eine größere Entlastung wird Wagner nicht herbeigeführt haben, denn da dieser wieder, wie Morlacchi, keine Klavierfertigkeit hatte, blieb Reissiger ein großer teil der mühsamen Klavierproben. Der andere Teil wurde von dem eben auch neu angestellten Wusikdirektor Röckel übernommen.
Die Bedingungen bei Wagners Antritt waren gegen dieselben bei Reissigers Anstellung ungleich günstigere. Der Sieg der Deutschen über die Italiener war entschieden. Ferner hatte der Rienzi-Erfolg seinem Schöpfer beim Intendanten einen großen Einfluß gesichert, sa daß Wagner als Kapellmeister von vornherein größere Zugeständnisse erhielt. Das einschmeichelnde Wesen, welches Wagner in so hohem Grade zu Gebote stand, gewann ihm auch andere Freunde. Dem einflußreichen Kollegen Reissiger kam er anfangs mit Fleiß entgegen. So bot er ihm einen von ihm abgefaßten Operntext (die hohe Braut, nach Königs Roman) an, den dieser aber ausschlug, künstlerisch jedenfalls zu seinem Nachteil; denn Reissiger hatte mit guten Texten nie Glück gehabt. Von Wagner, dem geborenen Dramatiker, hätte er sicher einen wirksamen Text erhalten. Natürlich schlug Reissiger den Text nicht, wie die Wagner-Biographie in höhnischer Weise mitteilt, auf Anraten seiner Frau ab. sondern es fehlte Reissiger – eine Tragik für ihn – tatsächlich der Blick für größere dramatische Wirkungen in einem Libretto. Er war geborener Lyriker mit einem nur geringeren dramatischen Einschlag.
In Wagners erster Dresdner Zeit konnte niemand, vielleicht er selbst nicht recht, den Kunstrevolutionär vermuten, der bald aus ihm hervorbrechen sollte. Der Wagner der vierziger Jahre, wie er in der Geschichte bekannt ist, der Schüler des Philosophen Feuerbach, begann sich alsbald zu regen. Er fühlte einen Drang nach vorwärts, sein Ziel kannte er selbst noch nicht. Es kam die Periode des „noch nicht bewußten künstlerischen Wollens”, wie sie Glasenapp nennt. Eine Individualität erwachte, suchte aber erst eine Richtung. Die in der Literatur bekannte Bewegung des jungen Deutschland sollte eine parallele Erscheinung in der Musik finden. Wagner gerät dabei in ein unglaublich gesteigertes Selbstbewußtsein und in einen fortwährend gereizten Zustand gegenüber seiner Umwelt, so daß wohl kein zeitgenössischer Kapellmeister um seine Kollegenschaft zu beneiden war. Kurze, vorübergehende, ungünstige Erscheinungen im Theaterbetriebe, die bisher nicht vorgekommen‚ aber gerade jetzt: auftreten, wie die durch Zwangsbeurlaubungen der großen Künstler (Schröder-Devrient, Tichatschek‚ Dettmer) entstehende Pause für größere Werke, welche diesmal nicht gelungen war, durch Verpflichtung von gleichwertigem Ersatz auszufüllen, dazu Reissigers Erkrankung lassen den Heißsporn gleich von verlotterten Zuständen reden, die er zu reformieren gehabt hätte. Ein Institut, das kurz vor Wagners Antritt die erste deutsche Stelle einnimmt, soll dann gleich verlottert sein? Wir merken schon, daß solche Urteile nur von einer äußerst subjektiv gerichteten Individualität stammen können. Eine starke Individualität, wie das Genie Wagner, begeht stets den Fehler des Fällens von absoluten Urteilen. Relativität ist ihm fremd, weil sie nur sich selbst als Ausgangspunkt anerkennt. Schlimm ist es aber, wenn das Genie dann in der Periode des „bewußten künstlerischen Wollens“ und in der Nähe des Sieges über die der vorhergehenden Gärungsperiode angegehörende Mitwelt nicht klarer zu sehen vermag oder um seinetwillen nicht klarer sehen will, und ungerechte Urteile austeilt, wenn schließlich die Anderen die Verteidigungsmöglichkeit verloren haben. Wagner hat z. B. Die Urteile über seinen Kollegen Reissiger fast alle erst nach dessen Tode geschrieben. Es fällt uns dabei ein Satz aus dem schon erwähnten Briefe des Oboisten Hiebendahl ein, welchter ehrlich schreibt: „Bedauerlich erscheint es immer wieder, auf Kosten Toter spätere Leistungen zu illustrieren und dadurch jene herunterzusetzen.“ Das Allerschlimmste aber ist, daß dann die Schriftsteller unbekümmert alles vom „Meister“ übernehmen, auch in noch aufgebauschteren Formen. Liebte Wagner schon selbst die Superlative, so geraten seine blinden Verehrer dazu in einen hämischen Ton. Dabei stehen ihnen im Falle Reissiger nicht einmal Tatsachen zur Verfügung, sondern alles, was gegen denselben vorgebracht wird. beruht auf Vermutungen und Anekdoten. Wir werden einzelne Fälle besprechen.

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20. 2. 2014 von Christian