Reissigers Klavierstücke

allgemeine Musikalische Berliner Zeitung, 7. Jahrgang, Nr. 5; 30. Januar 1830, S. 39f.

Klavierkomposition von C. G. Reissiger

Reissiger hat bereits als Klavier-Komponist so viel Treffliches geleistet, dass seine Kompositionen eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, und je mehr ich davon überzeugt bin, desto mehr halte ich mich für verpflichtet, dem klavierspielenden Publikum in dieser Beziehung einen Wink zu geben, der vielleicht nicht ganz der Beachtung unwert sein dürfte.
Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Klavier-Kompositionen von Reissiger häufig, wo nicht größtenteils, sehr mittelmäßigen Spielern von Lehrern in die Hände gegeben, oder auch von beiden gewählt werden, weil sie – weniger notenbunt aussehen als die Anderer. Sind sie nun glücklich einstudiert, wollen sie weder Spielern noch Zuhörern gefallen, beide aber dürfen ihr Urteil nicht laut werden lassen, da tüchtige Musiker dieselben Kompositionen durchaus für schön erklären. Man hofft, eine andre Komposition von Reissiger werde interessanter sein, wählt abermals eine solche, die Erscheinungen bleiben sich ganz gleich, und Reissiger trägt so bei manchem Klavierspieler viel dazu bei, dass dieser die Lust zu seinem Instrumente verliert, namentlich wenn, wie häufig der Fall ist, die Lehrer grämliche Pedanten sind, und dem Schüler nichts anders zu spielen erlauben als die von ihnen gewählten Kompositionen.
Nach meinem Urteile verhält sich die Sache so:
Reissigers Kompositionen sind, soweit ich sie kenne, durchgängig im strengsten Sinne des Wortes gediegen zu nennen. Diese Gediegenheit setzt eine sorgsame Führung der einzelnen Stimmen voraus, die Melodie wechselt oft in den Stimmen, und nicht selten treten mehrere Melodien gleichzeitig ein. Außer allen Anforderungen, welche Kompositionen im leichtern Stil an den Klavierspieler machen, verlangen gediegene Kompositionen noch strengern Unterschied zwischen Melodie und Begleitung, so wie beim gleichzeitigen Eintritt mehrerer Melodien richtigen Vortrag für jede einzelne und Herausheben der etwaigen Hauptmelodie. Wenn es nun selbst für den tüchtigen denkenden Musiker eine schwierige Aufgabe bleibt, dem Komponisten in dieser Hinsicht mit einiger Vollkommenheit zu genügen, wie will man von einem kindlichen, ungereiften Verstande, oder von einem leichten Charakter verlangen, an der Lösung so schwieriger Aufgaben Gefallen zu finden, und wem kann man zumuten, mittelmäßigen Spielern zuzuhören, wenn unter ihren Händen solche Kompositionen zum monotonen Tongewühl herabgesetzt werden?
Die notwendige Schlussfolge ist: Reissigers Klavier-Kompositionen, von tüchtigen Spielern sorgsam vorgetragen, müssen großes Interesse erregen, eignen sich aber durchaus nicht für die große Klasse der minder fertigen Klavierspieler.
Sollten diese Worte im musikalischen Publikum Eingang finden, so würden zwar Reissigers Kompositionen auf vielen Instrumenten verschwinden, aber dagegen würden tüchtige Spieler sich häufiger damit befassen, und Reissiger würde mehr Lob einernten, als dies der Fall sein kann, solange die meisten seiner Kompositionen, wie jetzt fast ausschließlich, in den Händen mittelmäßiger Spieler sind.
G. A. Dreske

03. 3. 2015 von musikchristian